The point of no return

 

Seit gut einer Stunde rauscht Little Wonder hoch am Wind durch die Ostseewellen. Vollzeug, also: Alle Segel oben. 9.30 Uhr zeigt mein Chronometer. Der Leuchtturm Schleimünde ist längst achteraus im diesigen Frühnebel versunken. Ich bin alleine auf See. Nur das Klatschen der Wellen am Bug ist die Musik dieser frühen Morgenstunde.

 

Um 8.00 Uhr heute Morgen habe ich mich aus dem Hafen Maasholm geschlichen. Kein Segler weit und breit auf dem Wasser. Ein Frachter zieht aus dem Frühnebel von Schleimünde herauf. Der Wind weht mit ca. 3 Bf. Nicht aus südlichen Richtungen, wie angekündigt, sondern mehr westlich. Na ja, wir werden sehen. Höruphavn in Dänemark soll angelaufen werden. Seit Schleimünde laufe ich mit ca. 320 Grad Kompasskurs. Der Wind nimmt stetig zu. Böen lassen jetzt regelmäßig Little Wonder weit nach Steuerbord überlegen. Soll ich ein Reff ins Groß binden? Ich warte noch zu. Die See wird mittlerweile immer kabbeliger, und der Wind frischt auf. Ich denke, dass es jetzt gute 4 Bf. sind.

 

"Nimm ein Reff ins Groß," sage ich mir, "jetzt geht es noch." Den Lifebelt habe ich bereits bei Schleimünde angelegt. Richtig, wie ich jetzt feststelle. Ich stelle mich mit einem Bein in den Niedergang zur Kajüte, weil ich so die Mastklampe erreichen kann, ohne dass ich auf dem Kajütendach herumturnen muss. Das Schiff läuft jetzt so weit am Wind, dass die Fock gerade noch steht, das Großsegel ist aufgefiert. Ich löse das Großfall und raffe mit beiden Händen das Segel bis zu den Reffbänseln herunter. Das heftig schlagende Segel und das in den Wellen stampfende Schiff erleichtern die Arbeit nicht gerade. Nach vielleicht einer Viertelstunde ist das Reff eingebunden, und ich hole das Großsegel wieder dicht. Ein Segen, dass Little Wonder nicht durch den Wind gelaufen ist und die Fock back kam.

 

Jetzt liegt Little Wonder wieder besser am Wind, der weiter zulegt. Ich denke, dass die häufig einsetzenden Böen gute 5 Windstärken erreichen. Öfter muss ich das gereffte Groß auffieren. Der Seegang lässt jetzt regelmäßig Gischt über das Vorschiff peitschen. Backbord voraus liegt der Leuchtturm Falshöft. Soll ich umkehren? Die Versuchung ist groß. Ich könnte nach Damp vor dem Wind ablaufen. Verfluchte Windvorhersage, von wegen „überwiegend aus südlichen Richtungen“. Morgen vielleicht, doch heute muss ich kräftig gegen an. Beim Leuchtturm Falshöft komme ich etwas näher unter Land - denke ich. Das warte ich ab, und dann entscheide ich.

 

Komisch, so ein rot-weißer Leuchtturm hat etwas Beruhigendes. Er sieht dich an, als wollte er sagen: Sei beruhigt, ich passe auf, du kannst auf mich bauen, ich bin für dich da. Jetzt liegt er querab, die See ist hier etwas ruhiger, und ich schiebe meine Entscheidung zur Rückkehr weiter auf. Little Wonder rauscht dahin und setzt weich in die Welle ein, wenn sie etwas seitlich anlaufen. Kurze, harte Wellen hingegen knallen unter den Rumpf und lassen das Schiff erbeben. 40 Jahre alt, Bootsbausperrholz. Ich denke an die Worte von Horst: „Die Engländer haben schon immer gute Schiffe gebaut für ihre bekanntermaßen rauen Gewässer an der Küste.“ Das gibt mir Zutrauen.

 

Und jetzt ist er da, der „point of no return“. Falshöft liegt achteraus, und irgendwo da vorne muss sein Bruder, der Leuchtturm Kalkgrund sein. Plötzlich - ein harter Schlag unter dem Schiff. Ich fahre zusammen und sehe unwillkürlich in die Kajüte, wohl um zu sehen, ob Wasser eindringt. Doch es war nur wieder eine von den kurzen Wellen, die Little Wonder erwischt hat, als sie weit nach Steuerbord geneigt ihre 320 – also fast Nord – verfolgt. „Du musst die Sache gelassen sehen“, sage ich mir. Little Wonder läuft so schnell wie nie zuvor. Gute 5 Knoten müssen es jetzt sein. Das ist eben nicht mehr der Edersee, der mir jetzt immer mehr wie eine Badewanne vorkommt.

Ich denke daran wie ich vor Jahren in vielen, vielen Stunden mit Freunden Little Wonder aus einem Fastwrack wieder aufgebaut habe. Was wird sie in ihrem langen Leben schon alles erlebt haben? Hat sie die Küsten Englands gesehen oder hat sie die Werft gleich in Richtung eines Binnenge-wässers verlassen? Jedenfalls scheint sie sich im Salzwasser wohl zu fühlen. So wie sie jetzt dahinjagt unter ihrem schönen neuen Segelkleid.

 

Inzwischen sind mir einige Segler auf Gegenkurs begegnet, die mich durch Winken freundlich grüßten. Was mögen sie von dem Winzling halten, der oft gerade halb so lang ist wie sie und sich alleine gegen den Wind tapfer nach Norden kämpft?

Die Sonne steht jetzt ziemlich hoch am Himmel, der diesige Frühnebel ist längst weggeblasen. Keine Wolkenbildung – also: beständiges Wetter. Die Wellen sind jetzt wesentlich länger, und die Schläge unter den Rumpf werden seltener. Seit einigen Minuten sehe ich am Horizont etwas, das ich noch nicht genau ausmachen kann. Es könnte ein Spinnaker sein. Nein, für ein großes Beisegel bläst es zu sehr. Ein Blick auf die Karte, die in einer wasserdichten Folie auf dem Cokpitboden vor mir liegt, erinnert mich an den Leuchtturm Kalkgrund. Es dauert nicht lange, und ich kann auch die Ansteuerungstonne Steuerbord voraus erkennen. Die Sache hat sich entschieden, jetzt gibt es nur noch Höruphavn, nichts sonst wäre jetzt mehr besser zu erreichen. Durch die sich westlich öffnende Flensburger Förde und die vielen Untiefen steht hier wieder eine ekelhafte Welle. Die Wellen kreuzen sich jetzt teilweise so, dass ich manchmal wie auf einem Plateau obenauf schwimme und dann an einer Seite hinabrausche. Manchmal schiebt eine Welle von hinten, so als wollte sie mich schnell meinem Ziel entgegen tragen.

 

Ich muss jetzt öfter aufpassen, dass ich die Welle nicht seitlich von backbord bekomme, dann dröhnt das ganze Schiff, dass es mir fast weh tut. Aber Little Wonder zieht unbeirrt seine Bahn. Hin und wieder verirrt sich die überkommende Gischt bis zu mir ins Cockpit, so dass ich das Kajütenluk vorziehen muss, damit es drinnen trocken bleibt. Der Aschenbecher ist aus der Backbordablage gesprungen und liegt jetzt geöffnet und entleert auf dem Kajütenboden.

 

Wieder ein kräftiger Schlag unterm Schiff. Ich habe nicht aufgepasst. Der Schlag war so heftig, dass ich den Cokpitboden hebe, um zu sehen, ob unten alles klar ist. Ein bisschen Wasser, na das ist wohl vom Regen vergangener Tage oder der übergekommenen Gischt. Mittlerweile ist der Leuchtturm Kalkgrund näher heran. Ich falle jetzt etwas ab auf ca. 340 Grad und öffne die Fock und das gereffte Großsegel etwas. Little Wonder läuft jetzt aufrechter und ruhiger.

 

Die dänische Küste kommt in Sicht. Jetzt noch einmal ein Drahtseilakt. Ich setze die Gastlandflagge. Leichter gesagt als getan. Ich muss erst eine Segelstellung finden, dass mir Little Wonder nicht in den Wind schießt. Nach einer guten Viertelstunde aber flattert das rote Tuch mit weißem Kreuz unter der Steuerbordsaling. Ein erhebendes Gefühl für Little Wonder und mich. Das deutsche Festland ist jetzt kaum noch auszumachen. Dafür taucht die Küste von Kaegnes vor mir in der Sonne auf. Laut singe ich ein Seemannslied nach der Melodie „Es blasen die Stürme, es brausen die Wogen“ aber mit eigenem Text, den ich hier nicht mehr wiederzugeben in der Lage bin. Es muss schaurig-schön über die Ostsee geklungen haben.

 

 

Ich denke an Horst und Holger, wie damals vor Schleimüde bläst es jetzt. Doch Höruphavn kommt immer näher. Das Kap von Kaegnes liegt bereits Steuerbord voraus. An der Küste kann ich einige Pfähle im Wasser mit Stellnetzen erkennen. Ein Blick in die Karte sagt mir, dass ich recht dicht unter Land das Kap runden kann. Ich mache dennoch etwas weiter Nord, um sicher zu gehen. Gegen 12.00 Uhr ist es mittlerweile. Little Wonder ist Höchstgeschwindigkeit gelaufen. Ich hatte mit insgesamt 8 bis 10 Stunden Segelzeit gerechnet. Aber das galt auch für „schwachwindig“ wie RSH angekündigt hatte. Von wegen „schwachwindig“.

 

Das Kap liegt jetzt querab, und ich bringe Little Wonder vor den Wind auf 30 bis 40 Grad. Voraus die Bucht und irgendwo dort vorne Höruphavn in Dänemark. Vor dem Wind läuft das Schiff ruhiger. Ich surfe mit der Welle und muss nicht mehr gegenanknüppeln. Little Wonder atmet auf und rennt noch einmal quicklebendig. Ich gönne mir eine Zigarette. Jetzt wird nur noch genossen! Backbord ist die hohe weiße Küste der Insel Als zu sehen, obenauf grüßt freundlich ein grüner Wald. Die Bucht empfängt mich mit offenen Armen, und voraus erkenne ich die Masten der Schiffe in Höruphavn. Gegen 12.30 Uhr nehme ich die Segel herunter und laufe mit blubberndem Außenborder in den Hafen ein.

 

Ein freundlicher Däne hilft mir beim Anlegen und fragt woher ich komme. Als er hört von Maasholm ist er erstaunt wegen der Windrichtung, da habe er es leichter gehabt, er sei den Alssund herunter gekommen.

 

Kurz darauf dampft der Kaffee aus der Thermoskanne, und ich bin rundherum zufrieden. Für zwei Stunden falle ich in die Koje, dann wasche ich das Salzwasser vom Schiff und gehe zum Hafenmeister, die Hafengebühr entrichten. Der Vorgang des Geldwechselns macht mir vollends klar: Ich bin in Dänemark. Eine ordentliche Pfanne mit Speck, Zwiebeln, Pilzen und Eiern sind der verdiente Lohn für 5 Stunden harte Arbeit. Zwei Flensburger Pils helfen runterspülen.

 

Ich bin am Ziel. Sonderborg liegt nur um die Ecke. Aber, ich muss auch wieder zurück. Also, nicht übermütig werden. Aber freuen darf man sich doch – oder?

 

 

Nächstes Kapitel.

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Wie die Welt aussieht hängt von der Perspektive ab, aus der heraus man sie betrachtet. © Gerhard Falk