Der Weg ist das Ziel

 

 

Eine neue Erfahrung ist das Gefühl Zeit zu haben. Der fast reflexhafte Blick auf die Uhr, das Leben mit der Uhr, fällt mir auf und beginnt mich zu stören. Alles um mich herum auf der Insel scheint Zeit zu haben. Die Natur strahlt eine zeitlose Gelassenheit aus. Auch ich muss meine Uhr neu stellen, auf die Inselzeit, die nicht nach Minuten zählt. 

 

 

Gestern Abend unternahm ich einen Spaziergang entlang des Waldrandes, am Friedhof vorüber, hinab zum „Kleinen Bahnhof“, vor dem der „Rasende Roland“ einem schnaufenden Dampfross gleich geduldig auf mich zu warten scheint. Nachdem ich mich beim Lokführer erkundigte, ob er heute noch nach Binz zurückkehre, schwinge ich mich das Treppchen empor und bin im Wagen. 

 

 

Der leicht bittere Geruch des aus allen Ventilen strömenden Dampfes weckt sofort wieder Erinnerungen an frühe Kindertage. Die Fahrten in den Sommerferien von Marburg nach Aldenhoven zu meiner Schwester Hella. Wie sich der Zug von einer schweren Eilzug-Lok entlang der Lahn, hinein ins Siegerland und durch den Höhenrücken des Rothaargebirges nach Köln schlängelte. Durch zahllose Tunnel, in denen oft der Dampf der Lokomotive durch nicht ganz dicht schließende Fenster in die Abteile drang. 

 

 

Ein Ruck geht durch den Zug, die Lok stößt ein schrilles Pfeifen aus, und der Rasende Roland setzt sich langsam in Bewegung. Nach Göhren geht es, erfahre ich von Mitreisenden, die sich gleich mir kurz entschlossen auf die Feierabendtour eingelassen haben. Der Zug rüttelt heftig auf den Schmalspurschienen, und immer wieder meldet die Lokomotive bei vielen kreuzenden Waldwegen ihr Herannahen. Auf der linken Seite säumt die Bahnlinie einen Kiefern- und Buchenwald, vereinzelt stehen mächtige Eichen. Rechts öffnet sich der Blick in die Niederung und bei Sellin auf ein Boddengewässer, den Selliner See, der durch einen schmalen Kanal Anschluss an den Greifswalder Bodden findet. Der nächste Ort ist Baabe, und dann sind wir in Göhren. Alle Orte sind Ostseebäder, und überall wird gebaut und renoviert, um den Anschluss an frühere Zeiten mit viel Kur- und Fremdenverkehrsbetrieb wieder zu finden. In Göhren angekommen wechselt die Lok über ein Rangiergleis an die andere Zugseite, nachdem sie zunächst riesige Wassermengen aus einem überdimensionalen Wasserhahn neben dem Betriebsschuppen verschluckt hat. Lokführer und Heizer lehnen nach dem Ankuppeln in den kleinen Seitenfenstern der Lokomotive und grinsen auf die bewundernd um den Zug umherstehenden Reisenden hinab, die auf die Abfahrt nach Binz in 20 Minuten warten. Nur der Heizer verschwindet schnell wieder im Inneren seines Dampfrosses, vorgebend frische Kohlen schippen zu müssen, als ich den Fotoapparat zücke. Sein Kollege strahlt weiterhin würdevoll lächelnd den Stolz des Lokomotivführers aus und genießt sichtlich den Anblick zahlreicher Fotolinsen, hinter denen sich die verklärten Gesichter der Eisenbahnfans verbergen.  

 

 

Bei Dunkelheit kehren wir nach Binz zurück. Dort ist auch der Gegenzug aus Putbus eingetroffen als ich wieder auf den „Klünderberg“ zurück steige. Die Lichter der beiden Dampfrösser, die auf den Gleisen beieinander stehen, leuchten wie zwei Augenpaare in die Dunkelheit. Von den Eisenbahnern dringen noch Gesprächsfetzen zu mir herüber, die aber vom Rauschen des Windes in den Alleebäumen, die ich entlang gehe, verschluckt werden.

 

Nächstes Kapitel.

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Wie die Welt aussieht hängt von der Perspektive ab, aus der heraus man sie betrachtet. © Gerhard Falk