Nun ist es Karfreitagabend, und meine Beine sind voller Muskelkater. Der stürmische Wind draußen bewegt die Vorhänge durch die geschlossenen Fenster. Gestern hatte ich morgens Krankengymnastik, die mir meine Grenzen zeigte, aber: wir arbeiten daran. Ich habe Frau Wagner eine Osterkarte und ein dort verstecktes Ostergeschenk im Umschlag überreicht, sie freute sich wie ein Kind.
Am Nachmittag schwinge ich mich in meine Wanderkluft, hänge mir den neu erworbenen Rucksack um und wandere mit heißem Tee und einem Apfel im Gepäck bei strahlender Frühlingssonne oben auf den Klippen durch Buchen- und Kiefernwälder zum Nachbarort Sellin. Es ist schon ein beeindruckendes Erlebnis, durch den Wald ziehend auf die Ostsee hinabzuschauen. Oft denke ich an Irene, wie es ihr hier gefallen würde.
Unterwegs - es regnet mittlerweile in Strömen - treffe ich ein junges Pärchen, die eigentlich zum Jagdschloss wollten aber den Weg verpasst haben. Auf meiner Karte klären wir die Lage, und ich empfehle ihnen nach Sellin zu gehen und von dort mit dem Rasenden Roland zurückzufahren. Meine Auskunft über den Fahrpreis zerstreuen ihre letzten Bedenken. Ich treffe sie noch einmal in Sellin am Strand und dann am Kleinen Bahnhof, wie die Haltestellen des Roland in jedem Ort heißen. Und es sind wirklich kleine Bahnhöfe. Fachwerk mit Rampe und Gepäckabfertigung, seit der Jahrhundertwende scheinbar unverändert.
Noch immer regnet es, und wir schlüpfen mit anderen Reisenden in einem kleinen Schalterraum unter. Meine Teekanne - die Thermosflasche - kommt aus dem Rucksack zum Vorschein, und schon dampft der heiße Tee im Becher. Herrlich, wie das dampfende Getränk neue Wärme verbreitet. Der Roland fährt erst in 1 Stunde nach Binz. Dem Pärchen biete ich meine zweite Tasse an. Sie nehmen sie dankbar entgegen, nass wie sie beide sind. Die Regenumhänge waren wohl nicht ganz dicht. Sie bieten mir von ihrem Kuchen an, doch ich beiße in meinen Apfel, vegetarisch tapfer verzichte ich auf die süße Leckerei. Ich denke schon seit dem ersten Zusammentreffen mit den jungen Leuten, wie wir uns damals vor 28 Jahren am Rheinhöhenpfad auf unserer Verlobungsreise verirrten und schließlich mit dem Köln-Düsseldorfer auf dem Rhein zurück nach Braubach fuhren. Im Alltag werden all die schönen Erinnerungen überdeckt. Zwei weitere Wanderer mit Hund schlagen vor mit dem Roland in einer Viertelstunde erst nach Göhren und von dort nach Binz zurückzufahren, da sitzen wir wenigstens im warmen Zug. So machen wir es dann alle und sitzen im Wagen, der mit zwei großen Kohleöfen geheizt wird. In Göhren werden neue Kohlen nachgelegt, aber unsere Sachen trocknen bis Binz nicht. Dafür beschlägt die Feuchtigkeit von innen die Scheiben. Die vorbeiziehende Landschaft wird unscharf. Während ich an meiner Pfeife ziehe wandern die Gedanken in eine ferne Zeit.
Schrill pfeift mich Roland zurück. Wir sind in Binz.
Heute am Karfreitag komme ich erst gegen Mittag aus den Federn. Die Zubereitung eines Blumenkohles und eines Salates für den Abend erfordern meine gesteigerte Aufmerksamkeit. Nach dem Verzehr des Gemüses lockt mich das Sofa zum Mittagsschlaf. Draußen pfeift der Wind, und es regnet. Bald umfängt mich süßer Schlummer. Du wolltest doch laufen, am Strand, die dicke Schwerwetterjacke anziehen, den Elbsegler auf dem Kopf? Ich schlafe weiter!
Vier Uhr ist es. Die Sonne hat mich geweckt. Schwing deine alten Knochen auf und mach dich auf die Socken, ermahne ich mich. Also: Gummistiefel an, Jacke und Weste, Elbsegler und Sonnenbrille. Ich laufe den Strand entlang nach Prora. Draußen in der Bucht ankert ein Zweimastsegler, der Zuflucht vor dem stürmischen Südost sucht, der morgen Orkanböen bringen soll. In Prora besichtige ich von außen das kilometerlange Gebäude, das noch im dritten Reich erbaut wurde. Ich werde noch einmal mit dem Fahrrad hinfahren und mich näher über seine Geschichte erkundigen. Jetzt bin ich doch noch ca. vier Stunden gewandert. Um 20.00 Uhr treffe ich mit dem beginnenden Regen in meiner Datscha ein. Im Fernsehen beeindruckt mich Spielbergs Film „Die Farbe rosa!“ außerordentlich. Anschließend schreibe ich Tagebuch. Die Feder kratzt, und meine Schrift ist hastig. Ich werde zu Bett gehen.
Ostersamstag. Ein Anruf von Holger und Irene wirft mich – Gott sei Dank – gegen 10.00 Uhr aus dem Bett. Anschließend Morgentoilette, spülen des gestrigen Geschirrs, Bett machen, saugen, Kaffee kochen, Kompostabfall wegtragen. Außer mir scheint hier niemand kompostierfähige Küchenabfälle zu produzieren, ich sehe jedenfalls sonst nur Gartenabfälle auf dem Kompost.
Ich verbringe den restlichen Vormittag damit, einen längst fälligen Brief zu schreiben.
Draußen ist es kalt, der Himmel ist verhangen. Aber an der See kann sich das Wetter von einer auf die andere Stunde ändern, darauf hoffe ich. Den Brief und Postkarten werde ich mangels Briefmarken wohl erst nach Ostern aufgeben können.