Wandertag

 

 

Wanderstiefel an, Rucksack auf und hinaus in den Wald; die Granitz ist das größte zusammen-hängende Waldgebiet auf Rügen. Über allem wacht das Jagdschloss, im 19. Jahrhundert erbaut; mein erstes Etappenziel. Ich nehme mir viel Zeit beim Betrachten der Räume und des Inventars. Dann erklimme ich zum zweiten Male den Turm und genieße den herrlichen Weitblick über ganz Rügen.

Nach einem Kaffee aus der Thermoskanne auf dem Fürstenblick vor dem Jagdschloss zünde ich eine Pfeife an und schlendere ohne bestimmtes Ziel in den Wald hinein. Bald schon komme ich auf einen Weg beim Forsthaus, den ich bereits mit dem Fahrrad befahren habe. Jetzt will ich endlich das Grab eines finnischen Kriegers finden, an dem ich damals wohl vorbeigefahren bin. Ich finde es mit der Inschrift auf einer verzierten Gusseisenplatte: „Hier ruht ein finnischer Krieger“. Ein Steinkranz begrenzt den Grabhügel, der Blumenschmuck trägt. Von weit höre ich das Röhren einer Motorsäge der Waldarbeiter. Das Ergebnis ihrer Arbeit liegt links und rechts des Sandweges, schöne Eichen- und Buchenstämme, hier und da ein Stapel Fichtenbrennholz.

Mein nächstes Ziel ist der Schwarze See, den ich dann in der Nähe der Küste finde. Herrlich  die Ruhe hier. Ich genieße die Stille, in die hinein die Waldstimmen der Vögel wie eine unendliche Melodie klingen. Ein Specht klopft, ich sehe ihn im Fernglas vor seiner Baumhöhle. Er ist schwarz mit roten Kopffedern.

 

An der Westseite des Sees, auf dem einsam eine Stockente ihren Weg zieht, finde ich eine Eiche, die mich infolge knorriger Verwachsungen wie mit einem Gesicht anschaut.

Langsam mache ich mich auf den Heimweg. Schmerzlich wird mir klar, dass das wohl meine letzte Wanderung durch die Granitz gewesen ist. Was am Anfang so unendlich lang erschien, es ist zusammengeschmolzen wie ein Schneeball in der Sonne. Ich habe das alles hier lieb gewonnen, ein neues Stück Heimat gefunden. Intensiv erinnere ich mich an einzelne flüchtige Begegnungen, die aber wie Bilder in meinem Kopf geblieben sind: die alte Frau mit ihrem Kaffee und Apfelstrudel im alten Fährhaus, die beiden Darsteller des Musicals, der Parkplatzwächter bei Kap Arcona, der Fahrradhändler in Binz, die Schaffnerin auf dem Rasenden Roland, die Pastorin in der Kirche zu Binz, die Verkäuferin im Kiosk des Vitariums, das Flötenquartett in Prora, Familie Schubert, meine Therapeutinnen, Frau Dr. Tomschin. Eine lange Liste, die ich noch fortsetzen könnte. Gedankenverloren gehe ich weiter, jetzt wieder in Richtung Binz. Da lacht mich aus dem Gras ein roter Apfel an, den wohl ein Wanderer beim Kramen aus der Tasche verloren hat. Ich untersuche ihn, er weist keine Schäden auf, wie frisch vom Baum gefallen. Das Wasser läuft mir schon im Munde zusammen, denn außer Kaffee habe ich nichts Essbares in meinem Rucksack. Vorsichtshalber schäle ich ihn, und dann genieße ich den bisher schmackhaftesten Apfel meines Lebens. Dabei schaue ich hinaus auf die Ostsee, zu der mich mein Weg mittlerweile wieder geführt hat. 

Weiter geht es wieder auf dem Höhenweg entlang, den ich schon von meinen Wanderungen nach Sellin kenne. Hinauf und hinab und rechts der weite Blick auf die Ostsee. Immer wieder denke ich an den Klippenweg auf Helgoland und versuche Vergleiche anzustellen, aber es ist kein Vergleich möglich. Hier ist es ganz anders. Der weite Seeblick ist ähnlich, doch im Wald zu laufen auf federndem Boden ist doch völlig anders. Große, dicke Buchen und Eichen durchsetzt mit Kiefern, in deren verwachsenen Kronen man die Ostseestürme der vergangenen Jahrzehnte ahnen kann.

Plötzlich vernehme ich vor mir Hammerschläge, von leichter Hand ausgeführt; keine Waldarbeiter also. Dann – näher kommend – höre ich Kinderstimmen, die laut ihre Arbeit begleiten. Durch die Bäume sehe ich sie in einer kleinen Schlucht, die hinab zum Strand führt. Als sie mich wahrnehmen, wie ich in meiner grünen Kluft mit umgehängtem Fernglas und dem schwarzen Lederrucksack mich ihnen nähere, verstummen ihre Hammerschläge und ihre Fachsimpelei. Kritisch ängstliche blicke kommen mir mich musternd entgegen. Ich sage so freundlich wie es mir möglich ist: „Guten Tag ihr Häusle-Bauer.“ Das Mädchen fasst als erste Mut und fragt mich: „Sind sie hier der zuständige Förster?“ Wahrheitsgemäß verneine ich. Sofort folgt von dem Jungen die Zusatzfrage: „Sind sie Tourist?“ Ich bestätige dies. Da spürt man, wie beide vor Erleichterung aufatmen, und jetzt wird auch der Junge wieder mutig und übernimmt den Ton, indem er seiner Freundin oder Schwester zuruft: „Siehste, ich hab’s ja gleich gesagt“, und sich an mich wendend enthüllt er seine Befürchtungen und fragt: „Dürfen wir das denn hier?“ und weist dabei auf die entstandene Behausung hin. Ich freue mich über ihr Treiben und denke daran, wie gern ich früher Gleiches getan hätte. Daher meine ich, dass sie ruhig fortfahren sollen, allerdings sollen sie ihr Bauwerk vom Weg hier als solches erkennbar machen und nicht so gut tarnen, dass vielleicht ein Fußgänger von oben darauf tritt und einbricht. Wieder den erfahrenen Bauingenieur herauskehrend antwortet der Junge: „Dafür haben wir Stangen vorn und oben überstehen lassen, da sieht man’s ganz deutlich“, und wendet sich mit einer wichtigen Geste wieder seinem Gebäude, Burg, Höhle oder was es führ ihn sonst noch ist, zu. Ich ermahne sie, keine Abfälle zurückzulassen und verfolge gedankenverloren meinen Weg weiter. Noch eine Weile höre ich die kräftigen und jetzt wieder mutigen Hammerschläge vom Strand. Hier hätte es damals Horst und Holger auch gut gefallen, sie wären auch prima Baumeister gewesen. 

Ein paar Minuten weiter treffe ich auf ein Par, vielleicht um die Fünfzig - Nobelkleidung. Er mit dem Blick und dem Habitus eines Erfolgmannes wendet sich mit der Frage nach dem Weg zum Jagdschloss an mich. Ich antworte, dass dies der Weg nach Sellin sei und weise mit der Hand die Richtung, in der auch ich im Landesinneren das Jagdschloss vermute, denn soweit reichen meine geographischen Kenntnisse inzwischen. Auf meine Erklärungen, wo der Weg zu finden sei, meint er, dass man ihnen erklärt habe, von Binz aus sei das Schloss in gut zwanzig Minuten zu erreichen. Ja, da hätten sie gleich vom Waldparkplatz aus den richtigen Weg einschlagen müssen, und der sei dann auch nur in vielleicht 40 Minuten zu schaffen. „Sie kennen sich hier gut aus“, meint er, und ich erwidere: „Ja, ein Bisschen“. Auf meine äußere Erscheinung mit einer Geste verweisend stellt er dann fest: „Ja, das sieht man“. So, nun bin ich in den Augen eilender Touristen doch noch zum „Einheimischen“ geworden. Da fällt mir gleich ein, wie einmal Reisende auf der Helgolandfähre verführt durch mein damals seemännisches Outfit bei mir Liegestühle mieten wollten. Vergnügt ziehe ich meines Weges weiter, und immer deutlicher wird mir, dass diese Woche mein Inselintermezzo zu Ende geht.

 

Nächstes Kapitel.

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Wie die Welt aussieht hängt von der Perspektive ab, aus der heraus man sie betrachtet. © Gerhard Falk