von
Gerhard Falk
Helgoländer Kittelhemd, rot gemustertes Halstuch, das über die Knopfleiste bequem auf dem wohl gerundeten Leib ruht, das graue Haar bedeckt noch dünn das Haupt,
aus dem Gesicht blitzen ab und zu flinke Augen: der Wirt im renommierten Fischrestaurant; beim Bedienen in der allen Wirten eigenen, leicht steifen Haltung, alles überschauend, schnell die Wünsche
seiner Gäste registrierend. Beim Bierzapfen wird schnell, wie ganz nebenbei, aus einem zweiten Glas nachgeholfen. Das verkürzt die 8 Minuten für ein gutes Pils entscheidend und spart das Tröppelbier.
Der Gast sieht nicht hin.
„Sehr zum Wohl, bitte sehr, hat es geschmeckt?!
„Ja!“
„Das freut mich.“
„Dorsch nach Helgoländer Art im Eimantel mit Kartoffelsalat – sehr wohl.“ Kartoffelsalat findet er besser als Salzkartoffeln entnimmt er, der Gast mit dem protokollierenden Blick, aus der zufriedenen
Miene des Wirtes.
Das Restaurant ist von fischigem Seefahrerambiente.
Am Nachbartisch:
„Hat’s geschmeckt?“
„Ja!“
„Wunderbar!“
Was bleibt dem Gast, der allein in Helgoland zum Essen ausgeht, als dass er beobachtet, zuhört, indiskret ist? Schließlich beobachtet jeder jeden, sich selbst nur kaum, doch dann und wann die
Reaktionen über sich selbst registrierend, bewertend – und, je nach Stimmung, Negatives oder Positives geflissentlich übersehend.
Ein Gast auf dem Weg zur Toilette:
„Haben sie Kümmerling?“, fragt da einer mit gedämpfter und schon fast vertraulicher Lautstärke, leicht vorgebeugt zum hinter dem Tresen stehenden Wirt.
„Ja!“
„Dann bitte zwei Fläschchen. – Ich zahle gleich hier.“
Die Fläschchen gehen mit zur Toilette. Sicher kommen sie leer zurück. Dann wartet man auf das Essen.
Der „Kümmerling“ hat sich beim Beobachter bereits verdächtig gemacht. Alle Vorurteile versammeln sich. Da gibt es nicht den leisesten Zweifel – und überhaupt: Sagt nicht der Gesichtsausdruck schon
alles? Jetzt vielleicht noch ein bisschen Mitlied? Nein: Zunächst wird weiter beobachtet und zugehört.
Kümmerling und seine Familie:
Eine jüngere Frau, eine ältere Frau mit Gesichtszügen einer Ehefrau und Mutter, zwei junge Männer, kurz- und langhaarig, nebeneinander sitzend, gegenüber den Frauen, vor Kopf der Vater, der
Ehemann.
Ein neuer Gast:
Breit, dunkler Typ – Peppone oder so ähnlich – Bart unter der Nase, das Doppelkinn, die großen Hautporen machen das Bild.
„Ein Bierchen und ne Kleinigkeit zu essen“, noch im Gehen seitlich zum Wirt gewandt, der mit seiner Begrüßung nicht ganz zu Ende gekommen war, doch sofort ein Glas unter den Hahn stellt und nach der
Speisekarte fingert. Unsichere, kurze Blicke, Kontakt vermeidend, lässt der Neue zu den bereits besetzten Tischen flackern. Er sitzt, sein Bauch sitzt, das Doppelkinn ruht auf dem Brustansatz, die
Lesebrille sitzt auf der breiten Nase, die schwarzen Äuglein flitzen durch die Speisekarte.
Der Gast zum servierenden Wirt:
„Nummer 45 – bitte! Oh, das ging ja schnell!“ Das Bier schmeckt bereits.
„Wenn keine anderen Bons vor ihnen sind, dann geht’s schnell“, bedankt sich der Wirt.
Die dicken Arbeitsfinger des Gastes umschließen die Gabel mit festem Griff. Noch etwas Salz über den panierten Fisch. Große Gabeln voll verlassen den Teller. Schnell ist die Platte geputzt. Der
Hunger war groß, doch Kartoffeln bleiben zurück. Nach dem Serviettenwischen noch ein letzter Blick, der sagt: Vielleicht hätte ich die Kartoffeln doch noch essen sollen? Aber die Zigarette brennt
schon – vorbei!
Während der Protokollant so die Gäste des Lokals und den Wirt beobachtet, hat er selbst gegessen und schreibt Notizen auf einen Abrechnungsblock, den der Wirt verständnisvoll lächelnd herausgab. „Für
Notizen“, hatte er gesagt. Für welche wohl, denkt der Wirt. Doch nicht lange, am großen Tisch werden nach dem Essen jetzt Getränke gewünscht. Beim Abservieren am Nachbartisch schaut der Wirt mit
kurzem Blick – scheinbar unbeabsichtigt – auf den sich Notizen machenden Gast. Was der wohl schreibt?
Peppone steht auf und zahlt an der Theke in Eile, als führe sein Zug gleich (die Fähre verließ den Hafen bereits pünktlich um 16.00 Uhr). Die Registrierkasse rattert den Bon heraus – vorbei.
Nun ist er wieder alleine mit seinen Notizen. Sein Blick wandert zum wiederholten Male an der holzgetäfelten Wand entlang, an der hölzerne Seemannsköpfe in zwei Reihen dekorativ ins Lokal schauen; in
der oberen Reihe 16, in der unteren 14.
„Ist das die Ahnengalerie?“ fragt er den Wirt im Helgolandkittel mit rot gemustertem Halstuch.
„Nein, alles Geschenke“, antwortet der ob dieser Frage recht verdutzte Wirt und ärgert sich kurz im Fortgehen, dass ihm nichts Florett-witziges eingefallen war; Ahnengalerie? Manche Gäste spinnen
halt! Blöde Bemerkung, was schreibt der nur dauernd?
Über den Piratenköpfen schließt ein Bord die Wand ab, auf dem Segelschiffmodelle auf Gegenkursen zwischen Buddelschiffen unterwegs sind. Hanse-Kogge, Drei-Mast-Bark, Windjammer und Fischkutter. Eine
Möwe schaut in die Spitze des Degens, der über dem Durchgang zum Thekenraum hängt. Das Möwenschwanzgefieder ragt in einen Fischkiefer unbekannter Herkunft. Die blau-weiß karierten Gardinen im Lokal
sind zur Seite gebunden und geben Sprossenfenster frei, die von zweiarmigen elektrischen Petroleumlampen nostalgisch erleuchtet werden, geschmückt von kleinen Sträußchen immer blühender
Kunststoffblumen. Allein die Holzbänke für zwei schmale oder einen breiten Gast scheinen original aus den ersten Jahren der früheren Fischerkneipe zu stammen. Verkratzt, warm und abgesessen kennen
sie alle Helgoländer Hintern des letzten Jahrhunderts; die auswärtigen zählen nicht.
Am Familientisch wird nach dem Essen jetzt tüchtig geplappert. Der Kümmerling-Vater dominiert in der Lautstärke, Weisheiten und intime Kenntnisse verbreitend. Jeans und blauer Troyer lassen den
Möchtegernsegler oder Das-ganze-Jahr-Segler vermuten. Jedenfalls ein Segler von der Sorte, die mit Kommandos an die Familiencrew am Ruder stehend, laut hörbar mit ihrer Nicht-unter-100.000 Euro-Yacht
auf den Steg krachen, um dann klar festzustellen, wer aus der Crew – in der Regel alle – mal wieder versagt hat, weil er den Anordnungen, die der Kapitän noch vor dem Hafen getroffen hat, nicht
ausreichend Folge leistete. Auf dem Weg zur Toilette noch einmal zwei Kümmerlinge an der Theke, des Spiegels wegen, oder weil die hausgemachte Fischsuppe zu „acht-fünfzig“ so gut war.
Zigarette rauchend, lässig die Arme rechts auf der Registrierkasse und links auf dem Tresen liegend schaut der Wirt zufrieden in das Rund seiner Gäste. Vater kehrt zurück an den Tisch und ist gleich
wieder auf Sendung.
Etwas leiser diesmal: “Aber meine Hummersuppe mit Sahnehäubchen kann ich Euch wirklich nur empfehlen“, bestellt worden war diese zuvor mit dem kommentierenden Nebensatz: „…wenn wir schon mal hier
sind.“
Mutter berichtet von der letzten Altkleidersammlung, und dass eine Nachbarin – oder so ähnlich – auf den Strümpfen über die Straße kam, sie wohnt ganz alleine, und so weiter …
Der junge Mann mit langen, hinter dem Kopf zusammen gebundenen Haaren spricht von Freunden, die aus Australien kamen; sein Gericht war vegetarisch, was der Wirt beim Servieren nochmals besonders
hervorgehoben hatte. Jeder am Tisch ist über etwas sehr froh. Es geht munter durcheinander. Jetzt kommt die Rede auf eine Woche Ostsee. Vater hat sich endlich durchgesetzt. Also doch Segler! Schnell
ist das Gespräch im Maasholmer Yachthafen. Mutter berichtet von Teestuben; keiner nimmt den Ball auf. Der Vater: „Übrigens Jungens, meine Damen und Herren……………“, er beherrscht wieder das Gespräch und
hat nichts zu sagen. Er stockt, die anderen setzen ihre Rede fort, er kann nicht beenden, was so wichtig begann. Später berichtet er, dass ein Preis von 29,-- € entscheiden zu hoch war. Alle wissen
was er meint, nur der heimliche Zuhörer nicht. Jedenfalls erfährt er noch von der Mutter, dass die Mehrwertsteuer enthalten war. Also doch nicht so schlimm! Vielleicht ist es ihr hilflos wirkender
Versuch, alles nicht so extrem zu sehen. Vater behält Recht.
„Willst du noch eine Cola? Nein? Auch gut, sonst stehst du ja nachher wieder im Bett.“ Die Familie lächelt; der nicht mehr Cola trinkende Sohn gähnt. Das hat Vater wohl auch schon so dem kleinen
Knirps damals gesagt; er hat’s noch immer drauf.
Der Wirt macht sich jetzt auch Notizen. Schreiben ist ansteckend.
Der Blick des gähnenden Sohnes wandert von einem Schiffsmodell auf dem Bord zum anderen. Er nimmt am Gespräch, dem langsam der Stoff ausgeht, nicht mehr teil.
„Wollt ihr noch etwas trinken?“ überbrückt der Vater die Pause. „Nein! Dann möchte ich zahlen“, sagt er dem leise sich nähernden Wirt. Nach dem Rattern der Registrierkasse schreibt er wieder, als
solle er sich in dieser Aktivität mit dem eifrig notierenden Protokollanten duellieren, über den er sich zusehends zu wundern scheint. Er hat schließlich ein Speise- und kein Schreibrestaurant.
„Wir haben jeden Tag geöffnet, außer mittwochs. Schönen Abend noch“, wird einem Gast hinterher gerufen. Die Familie bleibt noch am Tisch zurück. Das Gespräch belebt sich wieder.
Nun erfährt der Zuhörer, dass der junge Mann mit den langen, hinter dem Kopf gebundenen Haaren doch nicht zur Familie gehört. Er sei katholisch aufgewachsen und habe den Kriegsdienst verweigert. Er
könne sein Leben nicht damit belasten, dass er jemanden tot schießen könnte, berichtet er. Kümmerling lächelt unbeholfen und zerreißt die Rechnung, auf der die Kümmerlinge nicht erscheinen sollten.
Man spricht jetzt über Katastrophenschutz und kämpfend verteidigende Truppe. Auch Mutter ist leicht erregt wieder dabei, es ginge doch um schlicht grundideologische Tatsachen.
Der Vater:
„Du kannst nicht mit Wattebäuschchen Krieg führen und schließlich haben wir 60 Jahre Frieden und eine ausgezeichnete Bundeswehr, die gemessen an ….. und außerdem ist alles relativ. Was? Nein, ich
habe in meiner Jugend nicht auf Spatzen geschossen.“
Alles geht jetzt durcheinander, jeder redet, keiner hört zu, aber alle sind heftigst engagiert.
Endlich ein wichtiges Thema!
Wortfetzen:
„….die Truppen, die Minensuchboote und überhaupt: Es gibt Fanatiker!“
Jetzt sind alle in Schwung. Das Weizenbier des Vegetariers kommt nicht zu Ende. Mutter hält das Gesicht in den Händen und lacht.
Der Vegetarier:
„Da hat einer den Sachsen das Angeln beigebracht, seitdem heißen sie die Angelsachsen.“
Vater berichtigt natürlich, dass nach England nicht die Sachsen sondern die Angeln gezogen seien.
„Ich lese da gerade ein Buch über dieses Thema“, bekräftigt er den wissenschaftlichen Wert seiner Aussage. Das Gespräch muss schließlich Niveau behalten.
Der Vegetarier wieder:
„Hinter Bayern beginnt der Orient.“
„Nürnberg ist Mittelfranken, und da legen die ausgemachten Wert drauf.“
Der Vater zum Vegetarier gewandt:
„Du hast etwas gegen die Bayern? Das ist aber ein liebes Völkchen.“
Jetzt legt der Zuhörer den Stift weg und hört nicht mehr hin.
Beim Verlassen des Lokals lobt der Segelvater das hervorragende Essen, erwähnt den jetzt beschwerlichen Weg hinauf zum Oberland und bestellt für morgen Abend einen Tisch.
„Samstags wird’s immer voll“, erklärt der Wirt im blauen Kittel mit rot gemustertem Halstuch, da müsse man auch die Uhrzeit festlegen.
„Neunzehnuhrdreißig! Gut, auf Wiederschaun, gute Nacht“, und in die Küche gewendet: „Schalt alles ab, wir machen jetzt Schluss!“