Was git's z'Nüni?

 

Wir saßen gerne in unserem kleinen Wohnwagen auf dem Vitznauer Campingplatz und sahen auf den See herunter. Der Vierwaldstätter See war für uns der Inbegriff der Schweiz. Dort fanden wir die Hohle Gasse und das Rütli, und wir fuhren mit der Rigi, dem alten Schaufelraddampfer, im Salon bei einem Glas Sekt von Vitznau nach Luzern, dann bis Altdorf und zurück nach Vitznau.

Das Pfeifen des Dampfers hörten wir bis hinauf auf den Gipfel des Rigi. Insgeheim nannten wir ihn „unseren Berg“. Bei unserer ersten Begegnung brachte uns die alte Zahnradbahn mit der Lok Nr. 7 und ihrem stehenden Kessel das letzte Stück bis Rigi-Kulm. Auf den Holzbänken im offenen Wagen befiel uns wohl endgültig das Schweizvirus.

Nein, wir hatten nicht Heidiland gesucht. Wir durchbummelten in zwei Jahren hintereinander jeweils für gut 5 Wochen die Schweiz. Unseren kleinen Wohnwagen nannten wir „Zigeunerwagen“. Wir hatten keinen Reiseplan. Wenn wir die Zeit für gekommen hielten, fuhren wir weiter und blieben, wo es uns gefiel. Das hätte schon hinter der nächsten Kurve sein können. Dann rutschten wir aus dem Tessin nach Italien hinein und standen auf dem Campingplatz „Sasso“ bei Intra.

Eines morgens gefiel es uns, über Domodossola, den Simplonpass und Brig nach Zermatt zu fahren und dann mit der Zahnradbahn hinauf. Vor dem Gornergrat-Hotel saßen wir mit dem Rücken zur warmen Bruchsteinwand und schauten hinüber zum Matterhorn. Zwischen uns und dem Berg zog sich das Band des Gletschers, die Sonne drang in uns, und wir atmeten die frische Bergluft, die uns trunken machte. So saßen wir bis in den Abend und wollten nicht wieder aufstehen. Wo eigentlich war Italien? Als ich die Sprache wieder fand, fragte ich meine Frau, ob wir nicht eine Nacht hier bleiben sollten. Sie sagte: „Ja!“ Ein Zimmer oben im Dachgeschoss mit einem kleinen Fenster zum Matterhorn nahm uns auf. Zahnbürsten und zwei warme Pullover bekamen wir im kleinen Kiosk. In der Nacht schlug uns das Herz bis zum Hals.

Noch vor fünf Uhr verließ ich das Hotel und ging zu einer etwas höher gelegenen Stelle. Setzte mich auf einen Steinhügel und sah nach Osten, das Matterhorn als mächtigen Schatten im Rücken. Bevor ich mich im Schwärmen verliere über den Sternenhimmel, die ruhenden Bergriesen, die kühle Luft und das langsam heraufkommende Morgenlicht mit den glühenden Gipfeln, will ich sagen, dass ich mich von der Schönheit dieser langen Stunde so getragen fühlte, dass ich sie zu den schönsten zähle, die ich je erlebte. Hinter mir begann die Spitze des Matterhorns in leichtem Rosa zu glühen, das langsam den ganzen Berg erfasste bis er zum leuchtenden Diamanten wurde. Um diesen Punkt, an dem ich mich befand, schien sich die ganze Welt zu drehen.

Gegen 7 Uhr kam die erste Bahn mit Japanern, die um mich herum wie Ameisen krabbelten und mit hochgehaltenen Fotoapparaten von allem entzückt schienen.

Nach unseren Zigeunertouren kamen wir dann gezielt nach Melano bei Lugano und ins Hotel Iris in Morcote. Auch der Lago Maggiore sah uns mehrfach wieder. Einen Winter erlebten wir in Leukerbad. Ich hoffte darauf, dass uns eine kleine Lawine auf der Zufahrtsstraße den Rückweg verstellen würde – vergebens.

Seit dieser Zeit fragt meine Frau am Morgen schon einmal: „Was git’s z’Nüni?“
Und ich antworte: „Gipfeli.“

Wir sprechen dann nicht mehr über unsere gemeinsamen Erinnerungen. Wir haben sie einfach.

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Wie die Welt aussieht hängt von der Perspektive ab, aus der heraus man sie betrachtet. © Gerhard Falk